Freitag, 11. März 2016

Internatsunterbringung

Irgendwann kommen viele Eltern, deren Kinder unter ADHS leiden, an den Punkt, an dem sie das Gefühl haben, dass es nicht mehr weitergeht.
Sowohl die Schule, als auch die soziale Integration des Kindes gestalten sich immer schwieriger.
Ich denke es gilt erst mal gedanklich eine bestimmte Schwelle zu überschreiten: Habe ich als Vater/Mutter versagt, weil ich das vielleicht nicht schaffe?
Hier ist meine Position ganz klar.
Wir sind Eltern, aber die meisten von uns sind keine ausgebildeten Sonderpädagogen.
Sich irgendwann einzugestehen, dass man das nicht mehr schafft, ist kein Zeichen von Schwäche, oder ein Eingeständnis, dass man als Eltern versagt hat.
Im Gegenteil, man tut als Eltern genau das richtige, wenn man sich eingesteht, dass bestimmte spezielle Anforderungen die eigenen Kompetenzen einfach deutlich überschreiten, und man die Hilfe von Profis braucht.
Sich Gedanken darüber zu machen, dass man sein Kind vielleicht woanders hingibt, obwohl man es liebt und bei sich behalten möchte, ist aus meiner Sicht sogar ein Akt der Selbstlosigkeit von Seiten der Eltern, bei dem sie ihr eigenes Bedürfnis nach Nähe zum Kind hinter das Wohlergehen des Kindes anstellen.
Lassen sie sich bloß von niemandem einreden, dass es egoistisch von ihnen sei, ihr Kind in ein Internat zu geben, wenn dieser Schritt für sie in Frage kommt.

Ich möchte an dieser Stelle aber nicht missverstanden werden.
Ich plädiere keinesfalls dafür, dass man Kinder mit ADHS generell in ein Internat geben sollte.
Jedes Kind ist anders, ebenso jede Familie, und das ganze Umfeld.
Und so individuell muss auch die Entscheidung getroffen werden.
Dabei ist noch eine Sache wichtig: Egal wie sie sich entscheiden, sie werden niemals erfahren, wie es gewesen wäre, wenn sie sich anders entschieden hätten.
Überlegen sie gut!
Wägen sie gut ab!
Und dann entscheiden sie!
Wenn sie irgendwann das Gefühl haben, dass es anders besser wäre, dann hadern sie nicht mit ihrer alten Entscheidung.
Stehen sie zur alten Entscheidung in dem Sinne, dass es zu dem Zeitpunkt eine gute und wohl überdachte Entscheidung war.
Wenn die Dinge inzwischen anders liegen, haben sie dennoch den Mut, jetzt eben anders zu entscheiden, eine neue Entscheidung zu treffen.
Das macht die alte Entscheidung nicht unbedingt falsch.
Dinge verändern sich...

Ein solches Internat ist natürlich sehr kostspielig.
Die allerwenigsten von uns werden sich so etwas leisten können.
Doch es gibt eine Möglichkeit, wie man das Jugendamt mit einbeziehen kann.
Es gibt den §35a im SGB III.
Im Internet gibt es genügend Seiten, die sich eingehend mit diesem Paragrafen und den Möglichkeiten beschäftigen.
Ich glaube, ich erzeuge hier keinen Mehrwert, wenn ich das hier noch mal alles zusammentrage.
Ich will versuchen mich auf einige ganz spezielle Punkte zu konzentrieren, die ich persönlich als besonders wichtig erachte, oder die anderswo vielleicht weniger zur Sprache kommen.

Im Allgemeinen liest man häufig, dass es sehr sehr schwer ist, diese Maßnahme vom Jugendamt genehmigt zu bekommen.
Auch unser Kinderarzt, der vor allem beim Thema ADHS in unserer Region eine echte Koryphäe ist, hat uns gesagt, dass das sehr schwer ist, und er bis dato keinen Fall kennt, bei dem das funktioniert hätte.
Auch unsere Ansprechpartnerin beim Jugendamt hat uns vorab gesagt, dass diese Maßnahme in unserem Landkreis noch nie genehmigt wurde.
Dennoch wurde sie im Abstand von wenigen Wochen für zwei unserer Kinder jeweils im ersten Anlauf genehmigt.
Ich kann natürlich nicht sagen, was wir anders gemacht haben, als alle anderen.
Aber ich kann ihnen einige Punkte mitgeben, die aus meiner Sicht ganz entscheidenden Anteil an den positiven Bescheiden des Jugendamtes haben.
  1. Der Ton macht die Musik!
    Wir waren zu jedem Zeitpunkt immer sehr freundlich zu den Mitarbeitern des Jugendamts. Wir haben unseren Anspruch zwar selbstbewusst vertreten, aber haben das Jugendamt nie wie einen Gegner behandelt, sondern wie einen Partner, der uns hilft, das beste für unsere Kinder zu erreichen. Das färbt definitiv ab. Natürlich kann man immer an Menschen geraten, mit denen die Chemie nicht stimmt. Aber eine Konfrontation, die zu verhärteten Fronten führt, ist hier niemals zielführend. Wenn sich die Situation irgendwie verhärtet, dann treten sie im Gedanken einen Schritt zurück, und versuchen sie durch das stellen von Fragen wieder zurück ins Thema zu kommen („Wie können wir sie unterstützen […]?“, „Welche Möglichkeiten gibt es […]?“ etc.). Versuchen sie sich (und ggf. auch allen anderen Gesprächsteilnehmern) immer vor Augen zu halten, dass hier ein Kind ist, das auf die Hilfe aller Beteiligten und deren Kooperation angewiesen ist.
  2. Taktisches Vorgehen!
    Sie sollten dem Jugendamt nicht direkt eine Liste von Internaten präsentieren, oder gar ein Wunschinternat. Dann kommt sehr schnell das Gefühl auf, dass sie nur eine Luxusbeschulung ihres Kindes wollen, welche die Allgemeinheit bezahlen soll. Gehen sie ganz offen in das erste Gespräch. Das Jugendamt soll ihnen Vorschläge machen. Vielleicht gibt es bereits Einrichtungen, mit denen das Amt gute Erfahrungen gemacht hat. Lassen sie sich vom Amt erst mal alle Möglichkeiten aufzeigen. Versuchen sie dann zu vereinbaren, dass sie parallel auch nach geeigneten Einrichtungen suchen. Beim nächsten Termin können sie dann ihre Suchergebnisse mit den Vorschlägen des Internats abgleichen und besprechen.
    Wenn ihnen das Jugendamt zunächst auch ganz andere Maßnahmen vorschlägt, dann zeigen sei sich auch hierfür offen, auch wenn sie das eigentlich nicht wollen. Nehmen sie die Vorschläge mit nach Hause, um sie zu überdenken. Lehnen sie sie erst im Nachgang oder beim nächsten Termin ab, und liefern sie hierfür aber auch gute schliche Begründungen. Wenn sie Alternativen zu schnell ablehnen, könnte ebenfalls der Eindruck entstehen, dass sie nur etwas bestimmtes im Sinn haben, für das die Allgemeinheit aufkommen soll.
  3. Vorbereitung!
    Seien sie perfekt vorbereitet! Dazu gehört ein Attest oder Gutachten eines Amtsarztes. Für die Maßnahme muss der Arzt meines Wissens nach aber eine Qualifikation für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorweisen. Aus diesem Attest muss eindeutig hervorgehen, dass das Kind eine seelische Behinderung hat (die mehr als sechs Monate andauert oder andauern wird), oder dass eine solche unmittelbar droht. Dass zur Linderung oder Abwendung dieser Behinderung, und damit das Kind irgendwann wieder zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befähigt wird, eine vollstationäre Unterbringung in einer geeigneten Einrichtung medizinisch notwendig ist. Wenn es keinen Amtsarzt mit geeigneter Qualifikation gibt, dann lassen sie sich lieber vom Amtsarzt an einen geeigneten Arzt überweisen. Wenn möglich an ihren eigenen Arzt (falls der die Voraussetzungen erfüllt), aber bestehen sie nicht darauf. Wenn die Maßnahme wirklich das richtige für ihr Kind ist, wird das jeder qualifizierte Arzt erkennen und attestieren. Der Weg über den Amtsarzt ist wichtig, wie sie in einem späteren Abschnitt noch sehen werden.
    Bringen sie auch alles andere mit, was irgendwie geraucht werden könnte. Sie können das sicher vorab telefonisch beim Amt erfragen. Eine Geburtsurkunde die das Kundschaftsverhältnis zu ihnen dokumentiert, und eine Meldebescheinigung, aus der hervorgeht, dass das Kind aktuell bei ihnen im Haushalt lebt, sollten sicher nicht fehlen.
    Wir haben für jedes Kind ein Entwicklungstagebuch verfasst. Das war für diese Maßnahme extrem hilfreich, hat aber auch in späteren Zeiten häufig gute Dienste geleistet. Dies jetzt im Detail zu beschreiben, würde den Rahmen sprengen. Ich versuche in den nächsten Tagen einen eigenen Post dazu zu schreiben.
    Durch eine perfekte Vorbereitung sparen sie nicht nur Zeit, sondern sie vermitteln den Menschen im Jugendamt auch bestimmte Botschaften. Die erste Botschaft ist, dass ihnen das Thema wirklich wichtig ist, und sie bereit sind, ihren eigenen Teil immer zuverlässig abzuliefern. Die zweite Botschaft ist, dass man es hier mit strukturierten Eltern zu tun hat, die sicher schon alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft haben, und die nicht aufgrund ihrer eigenen Umstrukturiertheit Probleme mit ihrem Kind haben. Sie machen damit einfach einen sehr guten Eindruck. Nichts ist schlimmer, als wenn sie eigentlich etwas von einem Amt wollen, aber das Amt ihren Unterlagen und Angaben hinterherlaufen muss.
  4. Es geht nicht um die Schule!
    Auch wenn es aus ihrer eigenen Sicht in erster Linie um die Beschulung des Kindes geht, so ist das nicht der Kerninhalt des Paragrafen. Es geht eigentlich darum, dem Kind eine altersgerechte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, von welcher es aktuell aufgrund der seelischen Behinderung mehr oder weniger abgeschnitten ist. Das ist enorm wichtig! Aus Sicht des Amtes erfolgt die Beschulung quasi „nebenbei“, auch wenn sie sich natürlich an den speziellen Bedürfnissen dieser Kinder orientieren muss. Aber das ganze ist offiziell eine Wiedereingliederungsmaßnahme, keine Optimierung der Beschulung. Das sollten sie immer im Hinterkopf behalten, und ihre Argumentation immer daran ausrichten.
Wenn man die Maßnahme genehmigt bekommt, heißt das aber nicht, dass man selbst nichts bezahlen muss.
Es gibt das Instrument der Kostenheranziehung.
Das Jugendamt bezahlt die Maßnahme voll, wird aber versuchen sich einen Teil des Geldes wieder von ihnen zurückzuholen.
Die Regeln hierfür können von Bundesland zu Bundesland leicht unterschiedlich sein.
Theoretisch könnten sie sich sogar zwischen verschiedenen Landkreisen innerhalb eines Bundeslandes unterscheiden, aber davon würde ich mal nicht ausgehen.
Das Grundprinzip ist, dass jemand der finanziell leistungsfähiger ist als andere, auch selbst einen angemessenen Beitrag zu dieser Maßnahme leisten kann.
Je nach Einkommen wird man in einer Tabelle in eine bestimmte Gruppe eingeteilt, nach der sich dann der zu zahlende monatliche Kostenbeitrag bemisst.
Für gleichrangige Unterhaltsverpflichtungen (=weitere Kinder) wird man in der Regel in günstigere Gruppen eingestuft (außer man ist in einer besonders hohen Gruppe gelandet, dann gilt das nicht mehr).
Ein Ehepartner wird hier nicht als gleichrangig, sondern als nachrangig gesehen.
Und bei Ehepaaren wird jeder Partner einzeln veranlagt, und einzeln zur Kasse gebeten.
Das Kindergeld, das sie für das Kind in der Maßnahme bekommen, wird i.d.R. komplett an das Jugendamt gehen müssen.
Noch ein Tipp: Fragen sie nach Sonderregelungen für die Zeiten, in denen das Kind zuhause ist.
Bei uns war es so, dass eines unserer Kinder mehr als 20% der Kalendertage zuhause war (dabei zählen aber nur Zeiten ab drei Übernachtungen am Stück, also keine „normalen“ Wochenenden).
Dafür haben wir einen bestimmten Nachlass auf unsere Zahlungen bekommen.
Das wurde uns aber nicht direkt vom Amt gesagt, sondern wir haben selbst aufgrund der Zuhause-Zeiten beim Amt nachgebohrt.
Wenn die Maßnahme also mal genehmigt ist, dann fragen sie bei der Kostenheranziehung ruhig kritisch nach, was sich da noch alles reduzieren lässt.

Wenn sie zu einer Kostenheranziehung aufgrund der Höhe ihres Gehalts verpflichtet werden, dann können sie zumindest noch versuchen diese Kosten beim Finanzamt geltend zu machen, und so von der Steuer abzusetzen.
Wenn sie es richtig verargumentieren (seelische Behinderung, Wiedereingliederung, KEIN FOKUS AUF BESCHULUNG), dann können sie die Kosten als außergewöhnliche Belastung ansetzen.
Die medizinische Notwendigkeit MUSS aber durch ein Amtsärztliches Attest nachgewiesen werden.
Selbst wenn das Jugendamt auch ein anderes Attest akzeptiert, so ist das Finanzamt nicht an das Handeln der Jugendamtes gebunden, sondern an seine eigenen Vorschriften.
Und die sagen inzwischen ganz klar, dass von der Pflicht des amtsärztlichen Attestes nicht mehr abgewichen werden darf.
Wenn der Amtsarzt die Qualifikation nicht hatte, dann sollte er das zumindest bestätigt haben und sie an einen anderen Kollegen verwiesen haben.
Das ganze muss unbedingt vor Beginn der Maßnahme geschehen.
Nur so haben sie eine Chance diese Kosten von der Steuer abzusetzen.
Das Finanzamt wird aber eine kalkulatorische Haushaltsersparnis (wird wohl irgendwo zwischen monatlich 500 bis 700 EUR liegen) ansetzen, um die der Betrag, den sie ansetzen können, wieder reduziert wird.
Auch wenn das irgendwie ungerecht erscheinen mag (mir erscheint es sogar äußerst ungerecht), weil man ja dennoch ein Zimmer für das Kind vorhält, für das man weiter Miete zahlen muss, und teilweise sogar noch mehr Kosten hat, weil man für das Internat einige Dinge doppelt anschaffen muss, so gibt es da leider nichts, was man dagegen tun kann.
Man hat lediglich ein wenig Essen eingespart, aber den betroffene Eltern, deren Kinder Medikamente nehmen, werden i.d.R. ja von diesen Kindern nicht gerade die Haare vom Kopf gegessen.

Das war jetzt ein sehr langer Blogpost.
Aber ich wollte dieses Thema gerne an einem Stück behandeln.
Zu einigen Randthemen soll es in nächster Zeit noch gesonderte Posts geben, und dann eher in überschaubarerem Rahmen.

Ihnen allen noch einen Schönen Tag



AHA-Blogger

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Vielen Dank für den Kommentar!